Baumannstraße 14
Auf einer Liste, die Ende April 1945, knapp eine Woche nach der Befreiung Leipzigs, vom National-sozialismus, auf einer Schreibmaschine mitten in den Trümmern der ehemals reichen Messestadt getippt wurde, stehen 16 Namen. Einer davon lautet „Abramovic“. Er steht für Martha und Max Abramowitz. Die Überschrift lautet: Liste der in Leipzig vorgefundenen Juden. Von über 11 000 Menschen, die 1933 zur jüdischen Bewohnerschaft Leipzigs gezählt wurden, war Max Abramowitz einer der wenigen Überlebenden.
Kindheit in Kleinzschocher
Martha Abramowitz (geb. Zschammer) wurde am 20. Januar 1901 in Leipzig geboren. Mit ihren Eltern Selma und Hermann und ihren beiden Brüdern wohnte sie zunächst in der Knauthainerstraße 31. Ihr Vater war Metallarbeiter und starb wenige Jahre nach ihrer Geburt. Fortan finanzierten die Einkünfte der Mutter Selma die Familie, sie eröffnete 1907 eine Milchhandlung. 1910 zog die Familie samt Geschäft in die Baumannstraße 14. Später wohnten dort Mutter, Tochter und Schwiegersohn Max. Ab 1943 verliert sich die Spur von Selma Zschammer. Sie war zu diesem Zeitpunkt 77 Jahre alt.1
Über die Ausbildung und den beruflichen Werdegang von Martha Abramowitz ist nichts bekannt. Jedoch liegt die Vermutung nahe, dass sie erst im Geschäft der Mutter und dann in der Rauchwarenhandlung ihres Mannes, die sie nach seinem Tod weiterführte, arbeitete. 1929 heiratet sie Max Marcus
Abramowitz.3
von Halle Nach Leipzig
Max wurde am 28. September 1897 in Halle an der Saale geboren. Mit 15 Jahren zog er nach Leipzig, um sich bei Chaim Reiss, der ein Pelzgeschäft am Leipziger Brühl betrieb, zum Rauchwaren-händler ausbilden zu lassen.4 1920 gründete er sein eigenes Geschäft. Politisch stand Max der SPD nahe und war Mitglied im jüdischen Sportverein Bar Kochba Leipzig. Spätestens ab 1932 wohnte er mit Martha und der Mutter Selma Zschammer in der Baumannstraße 14.5 Ein Jahr später kamen die National- sozialisten an die Macht. Max Abramowitz war Jude und somit Ziel der antisemitischen Gesetzgebung der Nationalsozialisten. Seine Heirat mit Martha, die keine jüdischen Vorfahren hat, schützte ihn vor einer Deportation in eines der unzähligen Konzentrationslager und der planmäßigen Vernichtung durch die Nationalsozialisten. Im antisemitischen Duktus der Nazis lebten beide in einer sogenannten Mischehe.
Im November 1938 verboten die Nationalsozialisten, als jüdisch eingestuften Menschen ein Gewerbe zu betreiben. Max musste sein Geschäft schließen und war ohne Einkommen. Am 9. November 1939 wurde Max Abramowitz im Zuge einer
Verhaftungswelle nach dem Attentatsversuch auf Adolf Hitler durch Georg Elser verhaftet. Einen Monat lang wurde er grundlos im Polizeigefängnis Leipzig in Untersuchungshaft festgehalten. Ohne eine Anklage oder Verhandlung wird er im Dezember wieder freigelassen. Die Repression der Nazis betraf auch seine Frau Martha und Schwiegermutter Selma. Sie litten unter Hausdurchsuchungen der Gestapo und wurden immer wieder aufgefordert, sich von Max Abramowitz zu distanzieren. Dafür wurden sie regelmäßig bei der Gestapo vorgeladen.7 Der Leipziger Buchenwald-Überlebende Rolf Kralowitz gibt 2006 einen Einblick, unter welchem Druck Ehepaare in einer „Mischehe“ standen:
Ich wollte noch von Herrn Weil erzählen. Dieser kam eines Tages […] und war ganz traurig. Er erzählte, dass es jetzt soweit wäre. Er hatte an diesem Tag einen Gerichtstermin und wurde von seiner nichtjüdischen Frau geschieden. Er hatte Angst, da er nun nicht mehr in einer „Mischehe“ lebte und dadurch nicht mehr geschützt war. Er fürchtete nun, mit dem nächsten Transport fortgeschafft zu werden. Es war ja so, dass die Frauen zur Gestapo bestellt und aufgefordert wurden, sich von ihren jüdischen Männern scheiden zu lassen. Einige haben diesen Schritt getan, viele haben es nicht getan. Diesen Frauen ist es sehr hoch anzurechnen. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an Martha Abramowitz und Erna Rosenthal. Weil war ganz bedrückt. Ein, zwei Tage später, er wohnte in der Nordstraße 11, hat er sich aus dem zweiten Stock in den Hof gestürzt. Er war sofort tot.8
Rolf Kralowitz 2006
Zwangsarbeit und HUnger
1940 wurde Max zum Arbeitseinsatz auf dem Leipziger Südfriedhof verpflichtet. Bereits seit 1938 war es
üblich, jüdische Erwerbslose zu harter körperlicher Arbeit bei
geringer Entlohnung zu verpflichten. Oftmals wurden die so zur
Zwangsarbeit gezwungenen während der Arbeit schikaniert und
misshandelt. Abramowitz war zu diesem Zeitpunkt schon sehr krank. Als Jude wurde ihm die Behandlung durch einen Facharzt, der sein Ischias-Leiden hätte lindern können, jedoch verwehrt. Auch die unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln trug nicht zur Besserung seines Zustandes bei. Seit dem Sommer 1939 sind Lebensmittel in Deutschland rationiert. Es werden Lebensmittel- karten ausgegeben. Jüdinnen und Juden bekamen gesonderte Zuteilungen, die in der Regel um einiges geringer waren, zu vielen Lebensmitteln haben sie keinen Zugang mehr. Max und seine Frau Martha erhielten bei der Lebensmittelzuteilung kein Fleisch, Gemüse, Eier oder weißes Brot.
Max’ Gesundheitszustand verschlechterte sich immer mehr. Bald war er kaum noch arbeitsfähig. Auch Kleidung bekam man zu dieser Zeit nur über Kleiderkarten. Den Abramowitz’ wurden diese Karten nicht ausgestellt. Auf offiziellem Weg war es ihnen nun nicht mehr möglich, neue Kleidung zu bekommen. Durch die antisemitischen Gesetze der Nazis wurden sie zudem systematisch beraubt. Nicht nur wurde ihre Arbeitskraft ausgebeutet – Martha Abramowitz wurde ab 1943 ebenfalls zum Arbeitseinsatz in einer Färberei verpflichtet –, sie mussten auch zusätzliche Steuern bezahlen.
Isolation und Verzweiflung
Das Radio der Familie wurde eingezogen und im extrem kalten Winter von 1941/42 mussten sie sämtliche Winterkleidung abgeben. Auch wurde die Zuteilung für Kohle und Brennmaterial empfindlich gekürzt. Max war bald kaum noch arbeitsfähig, mittlerweile musste er in einer Rauchwarenfärberei arbeiten, konnte jedoch nur noch die Hälfte der Arbeitszeit eingesetzt werden. 1942 musste das Ehepaar auch ihre Wohnung verlassen, sie bekamen ein Zimmer in einem der sogenannten Judenhäuser in der Humboldtstraße 10 zugewiesen.10 Viele der Bewohner:innen dieser Häuser werden von dort aus in die verschiedenen Vernichtungslager deportiert. Die dauerhafte Bedrohung ebenfalls deportiert zu werden, muss eine kaum nachvollziehbare Belastung gewesen sein.
Max Abramowitz muss zu dieser Zeit ebenfalls den „Judenstern“, einen gelben Davidstern, auf seiner Kleidung tragen. Er durfte keine Straßenbahnen benutzen, keinen Kontakt zu nichtjüdischen Freund:innen pflegen, keine Zeitungen oder Bücher kaufen.
Insgesamt 2000 Jüdinnen und Juden wurden ab 1941 aus Leipzig in die Vernichtungslager der Nazis deportiert, die Zahl der ermordeten Jüdinnen und Juden aus der Messestadt schätzt die Israelitische Religionsgemeinde Leipzig auf 6000 bis 7000.11
Kurze Freiheit
Im April 1945 wurde Leipzig schließlich von der US-Armee befreit. Max Abramowitz überlebte schwer gezeichnet die Terrorherrschaft der Nazis. Seine Gesundheit war jedoch so stark angeschlagen, dass er 1948 im Alter von 51 Jahren an den Folgen jahrelanger Zwangsarbeit, der schlechten Ernährung und dem enormen psychischen Druck starb.12Seine Frau Martha führte die Rauchwarenhandlung, die sie gemeinsam mit ihrem Mann bereits 1945 erneut gründete, weiter.13 Im September 1969 starb Martha Abramowitz im Alter von nur 68 Jahren. Max und Martha Abramowitz sind auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in Leipzig beerdigt.
Quellen:
- Leipziger Adressbuch von 1906 bis 1943 ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, 20237 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 17525 ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, Sta-L, 20031 Polizeipräsidium Leipzig, PP-M1 ↩︎
- IHK Nordsns: Sächsisches Staatsarchiv, 20242 Industrie- und Handelskammern Nordwestsachsens, Nr. 0424 ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, 20237 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 17525 ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, Sta-L, 20031 Polizeipräsidium Leipzig, PP-M1 / Bild: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig F/7937/2005 ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, 20237 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 17525 ↩︎
- Rodekamp Volker, Spuren jüdischen Lebens in Leipzig, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig , 2020, Leipizg ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, 20237 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 17525 ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, 20237 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 17525 ↩︎
- http://www.irg-leipzig.de/page/geschichte ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, 20237 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 1752 ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, 20242 Industrie- und Handelskammern Nordwestsachsens, Nr. 0424 ↩︎