Klarastraße 2
Martha und Hermann lernten sich wahrscheinlich während des Militärdienstes von Hermann in Leipzig kennen. Sie hatten einen gemeinsamen Sohn, Rolf David. Seit 1919 wohnte das Ehepaar in Kleinzschocher. Zunächst im Schönauer Weg und ab 1930 in der Klarastraße 2. Hermann kam aus einer jüdischen Familie, er war Mitglied der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig. Martha kam aus einem christlichen Elternhaus. Beide waren Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei. Zusammen mit ihrem Sohn Rolf schafften sie es unter widrigsten Umständen, die NS-Zeit in Leipzig zu überleben, bis Hermann und Rolf am 14.02.1945 mit dem letzten Deportationszug in das KZ Theresienstadt verschleppt wurden.
Der Soldat aus Hannover
Hermann David wurde 19.01.1884 in Hannover geboren. Nachdem er die Oberrealschule beendet hatte, machte er eine Ausbildung zum Kaufmann in einer Lederwarengroßhandlung. Nach Abschluss der Ausbildung blieb er in diesem Betrieb. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach wurde Hermann zu Heer einberufen. Das Infanterie-Regiment, dem er zu geteilt wurde, hatte seinen Sitz in Möckern.1 Wahrscheinlich lernte er in dieser Zeit seine zukünftige Frau Martha Krüger kennen, die zu dieser Zeit als Verkäuferin in einer Konsum-Filiale arbeitete. Die beiden heirateten im Dezember 1916, ein knappes halbes Jahr später wurde Rolf David geboren.
1919 wurde Hermann aus dem Heer entlassen. Die Familie zog nach Kleinzschocher in den Schönauer Weg. 1930 dann in die Klarastraße 2. Einer ihrer Nachbarn, Kurt Hermann Voigt, war ein notorischer Antisemit. Er sollte fast 10 Jahre später die sogenannte Judenstelle der Stadt Leipzig leiten. Voigt war einer der unzähligen Schreibtischtäter wären des Nationalsozialismus und zusätzlich Blockleiter in der Klarastraße. Er war mitverantwortlich dafür, dass die Familie fast zwei Jahre unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Leichenhalle des Alten Israelitischen Friedhofs hausen musste.
Durchhalten mit allen Mitteln
Wie die Familie David es schaffte sich durch die Jahre der Nazidiktatur zu bringen, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Martha David schreibt in ihren Erinnerungen von regelmäßigen Hausdurchsuchungen. Auch wurde Druck auf sie ausgeübt sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, was für Hermann und auch ihren Sohn Rolf mit ziemlicher Sicherheit den Abtransport in eines der Vernichtungslager der Nationalsozialisten bedeutet hätte. Sie blieb standhaft und rettete so ihre Familie.
Bis 1938 übten die Nazis vor allem durch antisemitische Verordnungen Druck auf als jüdisch markierte Menschen aus. Zahlreiche Verbote wurden erlassen, z.B. wurde das Betreten von Schwimmhallen für Jüdinnen und Juden verboten, Menschen die nach den Nürnberger Gesetzen als jüdische markiert wurden verloren das aktive und passive Wahlrecht.3 All diese Maßnahmen zielten darauf ab Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich hinauszudrängen. Sohn Rolf versuchte trotz alledem eine gewisse Normalität aufrecht zu erhalten. Er machte eine Ausbildung zum Kürschner und trieb, wie seine Nachbarsjungen Hans Schlesinger und Heinz Gembitz, Sport im jüdischen Sportverein Schild. Sozial wurden Jüdinnen und Juden ausgeschlossen, Nachbar:innen wendeten sich von ihnen ab und drangsalierten sie. Bis Ende 1937 lebten Jüdinnen und Juden in einer extrem feindseligen Umgebung. Auch im ehemals „roten“ Arbeiter:innenviertel Kleinzschocher, wie Max Glaser, der im selben Häuserblock wohnte, nach 1945 beschrieb.
Das Jahr 1938 markierte den Übergang zur brutalen und offenen Verfolgung von als jüdisch markierten Menschen in Leipzig. Das Jahr begann mit zahlreichen antisemitischen Verordnungen: so musste sämtliches Vermögen über 5000 Reichsmark gemeldet werden und so genannte Kennkarten wurden eingeführt. Für Jüdinnen und Juden, bedeutete das von nun an, dass sie bei sämtlichen Behörden ihre, mit einem großen roten J versehene Karte, vorlegen mussten und darauf hinweisen mussten, dass sie nicht „arisch“ waren. 1938 wurde auch das Gesetzt verabschiedet, dass Jüdinnen und Juden dazu zwang als zweiten Vornamen Israel oder Sarah anzunehmen.
Das Novemberpogrom vom 09. November 1938, das in verschiedenen Stufen über mehrere Tage dauerte, läutete den finalen Schritt zur Vernichtung der europäischen Juden ein. Hermann David wurde am 11. November 1938 verhaftet und für drei Monate im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Es gab weder eine Anklage noch eine Verhandlung. Seine jüdische Herkunft war ausreichend um seine Haft zu rechtfertigen. Insgesamt wurden in diesen Tagen in Leipzig bis zu 550 meist männliche Juden verhaftet. Darunter auch mehrere Nachbarn der Hermanns.
Entrechtung und Verfolgung
Kurz nachdem Hermann David im Januar 1939 wieder aus Sachsenhausen entlassen wurde, wurde die Familie gezwungen ihre Wohnung in Kleinzschocher zu verlassen. Zudem wurde Hermann und Rolf untersagt ihre Berufe weiter auszuüben. Die Familie bekam ein Zimmer in der Hindenburgstraße. 12 (heute Friedrich-Ebert-Straße) zugewiesen. In dem Haus wohnten noch weitere jüdische Familien, die ebenfalls aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Auch Rolf durfte seinen gelernten Beruf nicht mehr ausüben und musste von nun an, anstatt Pelze zu verarbeiten, im Steinbruch, beim Kohleabbau oder in der Fabrik arbeiten.
Vater Hermann wurde 1940 zur Zwangsarbeit in der städtischen Arbeitsanstalt in der Riebeckstraße verpflichtet. Dort musste er harte körperliche Arbeit leisten und verdiente fast nichts, sein Wochenlohn betrug 3 Reichsmark. Etwaiges Vermögen von Jüdinnen und Juden war zu diesem Zeitpunkt bereits eingefroren. Wer auf sein Geld zugreifen wollte, musste einen Antrag stellen. Falls dieser überhaupt genehmigt wurde, musste damit gerechnet werden, dass erhebliche Gebühren anfielen.
Bei einem Luftangriff wurde das Haus in der Hindenburgstraße ausgebombt. Die Familie wurde gezwungen in einem Verwaltungsgebäude im Alten Israelitischen Friedhof zu leben. Als dieses durch einen Bombenangriff 1943 zerstört wurde, blieb der Familie als Unterkunft lediglich die Leichenhalle. Die Behörden wussten von diesem Umstand, unternahmen aber nichts dagegen. Einer der Verantwortlichen war, wie bereits erwähnt, der ehemalige Nachbar der Familie Kurt Hermann Voigt. Er war eine der treibenden Kräfte hinter der Vertreibung der Leipziger Jüdinnen und Juden aus ihren Wohnungen:
Mit Beginn des Jahres 1941 verschärften Furch und Voigt das Vorgehen der „Judenstelle“. Bewusst wurden gesetzliche Vorschriften missachtet und die Lebensbedingungen der Juden rapide verschlechtert. Die Wohnverhältnisse wurden immer beengter. Teilweise waren Ehepaare mit Kindern in einem Zimmer untergebracht, und in größeren Wohnungen lebten bis zu sechs Familien.
Steffen Held., Die Leipziger Stadtverwaltung und die Deportation der Juden im NS-Staat4
Voigt beteiligte sich auch aktiv an der Vernichtung Leipziger Jüdinnen und Juden. Bei der Organisation der Deportationen erhielt Voigt die Listen im Vorhinein und ergänzte die Listen um zusätzliche Namen. Unter anderem setzte Voigt die Namen der Menschen auf die Liste, die versucht hatten sich gegen die Maßnahmen die unter seiner Leitung gegen Leipziger Jüdinnen und Juden durchgeführt wurden zu wehren.5 Kurt Hermann Voigt war einer der tausenden kleinen Herren über Leben und Tod, der sich hinter einem Schreibtisch verschanzte und mittels Füller und Tinte unsägliches Leid verursachte.
Kurz vor Kriegende am 14.02.1945 wurden Hermann und Rolf David mit dem letzten Transport aus Leipzig in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. In dem vollkommen überbelegten Lager, litten die Insassen an Hunger und den schlechten hygienischen Zuständen. Beide trugen ein lebenslanges Magenleiden davon. Sie überlebten auch diesen letzten Versuch der Vernichtung.
Befreiung & Kontinuitäten
Im Juni 1945 kehrten Rolf und Hermann nach Leipzig zurück. Die Familie zog wieder zurück nach Kleinzschocher und lebte in der heutigen Rolf-Axen-Straße. Auch nach dem Ende der Naziherrschaft blieb die jüdische Herkunft ein Stigma für die Davids. Anfang der 1950er Jahre rollte eine Welle des Antisemitismus durch den jungen sozialistischen Staat. Jüdische Angestellte wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Den jüdischen Gemeinden wurden kulturelle Veranstaltungen verboten, ihre Büros durchsucht, die Gemeindevorsitzenden verhört und Listen aller Gemeindemitglieder verlangt. 6
Rolf David, der sich zunächst aktiv am Aufbau der DDR beteiligte floh 1956 in die BRD. Hermann David litt schwer an den Folgen des KZ Aufenthalts und infiziert sich 1948 mit Tuberkulose. In einer Beurteilung, die durch ein Mitglied der SED über ihn vorgenommen wurde ihm vorgeworfen:
Am Parteileben nimmt er keinen Anteil. […] Er führt ein zurückgezogenes Leben und verkehrt nur mit Seinesgleichen.
Beurteilung, SED Kreisleitung Leipzig, 1949 7
In der Beurteilung wurde weder auf die traumatischen Erfahrungen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 Rücksicht genommen, noch auf den Gesundheitszustand von Hermann David. Zwischen den Zeilen ist das jahrhundertealte Vorurteil gegen Jüdinnen und Juden, die sich nicht für die Gemeinschaft engagieren würde und lieber unter sich blieben, herauszulesen. 1953 starb Hermann im Alter von 69 Jahren. Seine Frau Martha lebte noch bis Ende der 1970er Jahre in Kleinzschocher. 1979 starb auch sie. Über das Leben von Rolf David nach seiner Flucht aus der DDR ist nichts weiter bekannt. Die Mitgliederzahl der Jüdischen Gemeinde in Leipzig sollte in den kommenden Jahren, bis 1990, kontinuierlich sinken. Zählte die Gemeinde Ende 1945 noch 334 Mitglieder, waren es 1990 nur noch 53 Personen.8 Der Staat, der sich selbst als antifaschistisch definierte, hatte im Umgang mit jüdischen Opfergruppen enorme Schwierigkeiten. Erst kurz vor Ende der DDR begann die Aufarbeitung der Vernichtung der Jüdinnen und Juden in der DDR. 9
Quellen:
Soweit nicht anders angegeben:
Sächsisches Staatsarchiv, StA-L, 20237 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig Nr. 6531
Sächsisches Staatsarchiv, StA-L, 20237 Berirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig Nr. 12888
- Kürschner Dieter, 1998, Die Möckernschen Kasernen, Bürgerzeitung für Möckern und Wahren Nr. 32, Bürgerverein Möckern und Wahren, Leipzig, S. 14 ↩︎
- Stadtgeschichtliches Museum, Fotothek,F/936/2004 ↩︎
- Sächisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig, Online Ausstellung: Strukturen der Macht. Die Verfolgung Leipziger Juden 1938/39, Zeittafel zur Judenverfolgung 1933 – 1945 ↩︎
- Held, Steffen, überarbeitete elektronische Ausgabe 2011, Die Leipziger Stadtverwaltung und die Deportation der Juden im NS-Staat, Herausgeber: Dr. Volker Rodekamp Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Dr. Haury, Thomas, 2006, Antisemitismus in der DDR, Bundeszentrale für politische Bildung ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, StA-L, 20237 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig Nr 6531 ↩︎
- Diamant, Adolf, 1993, Chronik der Juden in Leipzig, Verlag Heimatland Sachsen GmbH Chemnitz, S.368 ↩︎
- Unger, Manfred, Lang Huber, 1988, Juden in Leipzig – eine Dokumentation, Hrsg. Rat der Stadt Leipzig, Leipzig. ↩︎