Antonienstraße 14
Von 1929 bis 1939 lebte in der Antonien-straße 14 die Familie Gembitz. Nach den antisemitischen Pogromen vom 09.-11. November 1938 entschlossen sich Max, Martha und Heinz Leipzig endgültig zu verlassen. Ihr Ziel war es nach Kolumbien zu gelangen, wohin Max‘ Bruder Alfred bereits 1935 aus Leipzig emigriert war. Im Mai 1939 konnten sie Deutschland Richtung Kuba verlassen. Es folgte eine fast einjährige Odyssee über Kuba, Holland und Frankreich bis sie im Februar 1940 endlich in Kolumbien ankommen sollten. Der folgende Text basiert vor allem auf einem Lebensbericht den Heinz Gembitz, der einzige Sohn von Max und Martha, wahrscheinlich in den 1980er Jahren in Israel verfasste.
Von Polen nach Leipzig
Max und Martha Gembitz wuchsen im heutigen Polen, in der Nähe von Posen auf. Martha, die mit Mädchennamen Gimkiewicz hieß, wurde am 14.07.1886 in Gniezno geboren. Zur Zeit ihrer Geburt gehörte die Stadt zu Preußen und hieß Gnesen. Max Gembitz wurde in Strzelno (Strelno), einer Kleinstadt ca. 40 Km von Gnesen entfernt geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte die Gegend zur Zweiten Polnischen Republik. Max kämpfte als Soldat für die deutsche Armee im Ersten Weltkrieg und kam in französische Gefangenschaft. Er blieb bis weit über das Kriegsende hinaus in Gefangenschaft. Erst 1920 wurde er mit den letzten Kriegsgefangenen entlassen. Viele von ihnen waren in Frankreich für Aufbau- und Aufräumarbeiten eingesetzt worden. Mitunter mussten sie die ehemaligen Schlachtfelder beräumen, wobei viele der Kriegsgefangenen durch explodierende Munition oder Mienen ums Leben kamen. Nachdem er nach Hause zurückgekehrt war, heiratete er Martha Gimkiewicz. Im Mai 1921 wurde dann ihr gemeinsamer Sohn Heinz Gembitz geboren. Ein Jahr später zog die Familie nach Leipzig.1
Aufbau einer Existenz
In Leipzig angekommen, eröffnete Max eine Schuh- und Lederwarenhandlung in der Mersebuger Straße 71, in der kleinen Passage zwischen Lützner- und Endersstraße. Zunächst wohnte die Familie auch dort. 1925 zogen sie in den Wohnkomplex hinter der Kammgarnspinnerei Stöhr in Kleinzschocher. Ihre erste Wohnung war in der Klarastraße 3. Vier Jahre später zogen sie dann in die Antonienstraße 14. In den Häusern lebten Angestellte und Gewerbetreibende, eine kleinbürgerliche Lebensumgebung. Bis 1933 war das nachbarschaftliche Verhältnis freundschaftlich.
Im Haus gegenüber wohnte die Familie Schlesinger, ebenfalls eine jüdische Familie. Die Söhne der beiden Familien, Hans und Heinz, freundeten sich an. Beide besuchten die gleiche Schule, die damalige Wilhelm-Wundt-Schule, die sich auf dem Gelände der heutigen Schule am Auwald in Schleusig befand. Max Gembitz, der die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges und die anschließende Gefangenschaft überlebte, schaffte es auch während der zahlreichen wirtschaftlichen Krisen der 1920er und 1930er Jahre seinen Laden zu halten und damit einen bescheidenen Wohlstand zu erwirtschaften.
Sein Bruder Alfred, der zur gleichen Zeit nach Leipzig kam, wohnte mit seiner Frau Anna und seinen Söhnen Hermann und Erwin in Reudnitz und führte dort eine Weißwarenhandlung 2. Max‘ Schwester Selma wohnte mit ihrem Mann und zwei Kindern in Berlin. Dort gab es noch weitere Verwandtschaft: Marthas Bruder, der steile Karriere gemacht hatte und im Vorstand des Logistikunternehmens Schenker&Co arbeitete, seine Frau und die beiden Söhne Werner-Adolf und Lothar Gimkiewicz.
Ausgrenzung und Unsicherheit
Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht gebracht wurden, war Heinz Gembitz zwölf Jahre alt. Er besuchte das Realgymnasium im zweiten Jahr und zunächst blieb alles wie gewohnt. Heinz spielte im jüdischen Sportklub Schild der Sportvereinigung des Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) Handball und traf sich manchmal in der einer Turnhalle im Leipziger Zentrum zum Tischtennisspielen mit Freundinnen und Freunden aus dem Verein.3
Der RjF war von ehemaligen jüdischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für das Deutsche Reich kämpften, gegründet worden. Der Verein stand für die Strömung unter den deutschen Jüdinnen und Juden, die sich eher für Assimilation statt Abgrenzung stark machten und deren Mitglieder sich vor allem als Deutsche begriffen. Ob Heinz Gembitz diese Einstellung teilte ist unbekannt.
Die Nationalsozialisten brauchten nicht lange um die junge Demokratie in Deutschland auszuradieren. Max Gembitz, der für das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und dafür mit einer Medaille ausgezeichnet wurde, wähnte sich zunächst noch in Sicherheit.4 Doch bald war auch der Familie Gembitz klar, dass sich ihr Leben fundamental verändert hatte und die Herrschaft der Nationalsozialisten keine vorübergehende Erscheinung war. Nachbarn und Nachbarinnen mit denen die Familie zuvor freundschaftlich verkehrte, wandten sich von den Gembitz‘ ab.
Die Letzten JahRe in Leipzig
Der reichsweite Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933 machte schnell klar, dass die Nationalsozialisten nicht nur hohle Phrasen droschen. Während sie auf der einen Seite die politische Opposition ausschalteten, wurden auch schnell die ersten Maßnahmen getroffen als jüdisch markierte Menschen aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben auszuschließen.
Spätestens 1935 mit der Einführung der Nürnberger Gesetze wurden die Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten offen sichtbar. Gleichzeitig wurde eine Reihe weitere antisemitischer Gesetze erlassen. Für Heinz bedeutete das zum Beispiel, dass es ihm eigentlich unmöglich gewesen wäre am Schwimmunterricht in der Schule teilzunehmen. Das Betreten von Schwimmbädern war Jüdinnen und Juden in Leipzig ab 1935 verboten. In diesem Zusammenhang erscheint es absurd, dass sein Sportlehrer an der Wilhelm-Wundt-Schule, der auch noch einer der wenigen überzeugten Nazis unter den Lehrkräften dort war, Heinz und seinen Freund Hans Schlesinger trotzdem die Teilnahme am Schwimmunterricht erlaubte.
Auch von den Mitschülern, mit der Ausnahme eines Klassenkameraden, berichtet Heinz Gembitz, habe er kein Abwertung erfahren. Trotz allem wussten seine Eltern die Zeichen der Zeit richtig zu deuten und entschieden, dass Heinz sich nicht weiter auf ein Studium vorbereiten sollte. Er sollte einen Beruf erlernen, mit dem er überall auf der Welt zurechtkäme und der keine Sprachkenntnisse erforderte. 5
Heinz beendete zusammen mit seinem Freund Hans Schlesinger die Schule und machte sich auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz. Wahrscheinlich fiel es ihm nicht sehr leicht, hatte er doch im direktem Umfeld der Schule kaum antisemitische Anfeindungen erlebt. Bevor er die Schule verließ, wurde er noch zu einem Gespräch beim Direktor der Schule bestellt. In seinem Lebensbericht schreibt Heinz Gembitz, dieser wäre schockiert gewesen über den Schulabbruch und hätte gefragt, ob Erlebnisse an der Schule dafür ausschlaggebend waren. Er würde keine antisemitischen Ausfälle an seiner Schule dulden. 6
Die Einschläge kommen näher
Dass die Entscheidung die Schulbank gegen eine praktische Ausbildung zu tauschen richtig war, mussten die Gembitz‘ schnell feststellen. Im Januar 1937 wurde Hermann Gembitz der Sohn seines Bruders Alfred in Leipzig verhaftet und ins KZ Dachau verschleppt. Dort wurde er bis Juli 1937 festgehalten, der Grund für die Verhaftung ist nicht bekannt.7 Sein Vater, Alfred Gembitz, war nach Aussagen seines Neffen bereits 1935 nach Kolumbien geflüchtet. Nach seiner Entlassung emigrierte Hermann Gembitz ebenfalls nach Kolumbien.
Heinz dagegen begann eine Ausbildung an der Bertholdschen Unterrichtsanstalt in der Salomonstraße in der Leipziger Innenstadt. Danach lernte er bei dem jüdischen Handwerker Michael Baschis im Waldstraßenviertel das Handwerk des Installateurs. Dort blieb er bis März 1938. Danach ging er nach Berlin um an einer Privatschule Maschinen- und Elektrotechnik zu studieren. Er wohnte bei seiner Tante Frida Gimkiewicz. Sie war die Schwägerin seiner Mutter Martha. Ihr Mann war Gerneraldirektor des immer noch existierenden Logistik Konzerns Schenker&Co gewesen, bevor er 1935 an einer Malaria-Erkrankung , die er sich im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte und die wieder ausgebrochen war, starb. Weil er Jude war, war er 1933 gezwungen worden, seinen Posten aufzugeben. Seine Arbeit für den Konzern war jedoch so wichtig, dass er nachts heimlich an seinen Arbeitsplatz gebracht wurde, um weiter für den Konzern tätig zu sein.
In der Nacht des 9. / 10. Oktober 1938 brach eine Welle der Gewalt und Zerstörung über die deutschen Jüdinnen und Juden herein. Heinz Gembitz war zu diesem Zeitpunkt in Berlin. Er lebte bei seiner Tante Frida, die ein großes Haus in der Nähe des Kurfürstendamms bewohnte. Im Haus wohnten neben den beiden Cousins Lothar und Werner-Adolf noch weitere jüdische Mieter:innen. Werner-Adolf war wie Heinz Gembitz 17 Jahre alt. Der zwei Jahre jüngere Lothar Giemkiewicz wurde als hochintelligent beschrieben. Trotzdem er ein notorischer Schulschwänzer war, schrieb er Bestnoten und war ein gefürchteter Schachspieler, der es auch mit professionellen Spielern aufnahm.
In der Nacht des Novemberpogroms zog eine Gruppe von Männern, bewaffnet mit Eisenstangen und flankiert von SS-Männern in Autos über den Kurfürstendamm in Berlin und zerstörte alles, was sie als jüdisch betrachteten. Scheiben wurden eingeworfen, Waren aus Geschäften geholt und auf die Straße geworfen, Wohnungen wurden verwüstet. Die bekannte Berliner Prachtstraße glich einem Trümmerfeld.8
Gleiches galt für die Merseburger Straße in Leipzig, in der zahlreiche jüdische Geschäfte und Wohnungen zerstört wurden. Wie durch ein Wunder blieb das Schuhgeschäft von Max Gembitz jedoch verschont. Allerdings nicht lange. Zwei Wochen später erschienen in zivil gekleidete Männer in dem Geschäft in der Merseburgerstraße und kündigten an alles kaputt zu schlagen. Angeblich hätten sie den Auftrag dazu erhalten. Max Gembitz behielt jedoch einen klaren Kopf und behauptete, das Geschäft und alles was sich darin befände, wäre bereits an einen Arier verkauft worden, die Herren könnten sich gerne austoben. Daraufhin verließen die Schläger den Laden wieder ohne ihre Pläne auszuführen. 9
Noch einmal Davon gekommen
Das Haus von Heinz‘ Tante in Berlin war in der Pogromnacht zwar von dem wütenden Mob verschont geblieben, allerdings nicht von der Gestapo. Am 10.11.1938 klopfte es an der Tür des Hauses in der Württembergischen Straße. Ein zivil gekleideter Gestapo-Mann wollte einen weiteren jüdischen Mieter, der ebenfalls im Haus wohnte, abholen. Als er diesen nicht antraf und seine Frau behauptete, sie wisse nicht wo er sei, drohte der Gestapo-Mann Heinz und seine Cousins Lothar und Werner-Adolf zu erschießen. Zwar ist davon auszugehen, dass dies eine leere Drohung war, doch im Lichte der Geschehnisse der vergangen Nacht, mussten die Anwesenden alles für möglich halten. Als die Frau des Gesuchten schließlich sagte, ihr Mann wäre in einer Stunde wieder da, setzte sich der Eindringling und wartete zusammen mit den drei Jungen. Trotz der bedrohlichen Situation, schildert Heinz das folgende Gespräch als freundlich. Der überzeugte Nationalsozialist sprach mit den Jungen über das Judentum, laut Heinz Gembitz „demonstrierte [ er dabei ] Kenntnisse, die über unser Wissen über das Judentum hinausgingen.“
Als der gesuchte Mieter rund eine Stunde später dann wirklich in der Tür stand, wurde er sofort verhaftet. Ein Fluchtversuch wurde von seiner eigenen Frau, die große Angst um das Leben der drei Jungen hatte, vereitelt. Glücklicherweise konnte sich ihr Ehemann, durch den Nachweis einer chronischen Krankheit, nach kurzer Zeit wieder aus den Fängen der Gestapo befreien, er kehrte noch am selben Abend in das Haus zurück. Heinz Gembitz wurde von seiner Tante Frida zurück nach Leipzig geschickt. Seine Ausbildung konnte er sowieso nicht fortsetzen. Das gesamte Lehrerkollegium seiner Schule, das sich ausschließlich aus aus dem Staatsdienst entlassenen jüdischen Lehrer:innen zusammensetzte, war verhaftet worden.
Die Bahnfahrt nach Hause war nicht ungefährlich, der Leipziger Hauptbahnhof war „voller Gestapo-Leute die nach Juden suchten“. Er entwischte den Häschern der Nazis, aber die Gefahr war noch lange nicht gebannt. Zuhause in Kleinzschocher angekommen, fand er seine Eltern nicht vor. Er entschied sich bei seinem Freund Hans im Haus gegenüber die Nacht zu verbringen. Hans‘ Vater war bereits verhaftet. Am nächsten Morgen wurde Heinz Gembitz von seinem Freund geweckt, SS-Männer standen vor der Tür der Familie Gembitz, doch dort war glücklicherweise niemand zu Hause.
Im Laufe des Tages meldeten sich Heinz‘ Eltern bei der Familie Schlesinger. Max, Martha und Heinz entschieden, zurück nach Berlin zu fahren und sich dort zu verstecken, bis sich die Lage wieder beruhigen sollte.
Flucht ins Ungewisse
Die Familie Gembitz beschloß endgültig Deutschland zu verlassen. Ein kompliziertes Unterfangen. Für die meisten Länder, die in Betracht kamen, herrschten strenge Einreisebeschränkungen. Die Bankkonten der Familie waren eingefroren worden, zusätzlich musste Max Gembitz auch noch die zynische „Judenvermögensabgabe“ bezahlen. Die National-sozialisten ließen die immensen Schäden, die ihre Fußtruppen in deutschen Städten verursacht hatten, von den Opfern des Pogroms bezahlen. An die Familie Gembitz wurde eine Forderung in Höhe von 8600 Reichsmark gestellt. Insgesamt pressten die Nazis ihren Opfer mehr als eine Milliarde Reichsmark ab.
Am gleichen Tag, dem 12. November 1938, erließen die Nationalsozialisten ein weiteres Gesetz, die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“. Max musste das Geschäft in der Merseburgerstraße schließen und verkaufte es, wahrscheinlich weit unter Wert. Es gab nichts mehr, das die Familie in Leipzig hielt. Das naheliegendste Ziel für ihre Flucht war die Stadt Cali in Kolumbien, wo Max‘ Bruder schon einige Zeit lebte. Über einen Rabbi gelang es Max Gembitz kleine Geldbeträge nach Kolumbien schicken. Der besagte Rabbi hatte die Erlaubnis Gemeinden außerhalb des Deutschen Reichs zu besuchen und konnte so das Geld vom Ausland aus nach Kolumbien schicken. Während dieser Zeit war Heinz in Berlin und besuchte Fotografie- und Malereikurse. Im Januar 1939 gab es einen ersten Lichtblick: Die Familie erhielt Touristen-Visa für die Einreise nach Uruguay. Als alle Reisevorbereitungen abgeschlossen waren, kam jedoch die Nachricht, dass Uruguay Juden die Einreise verweigerte. Die Reise wurde abgebrochen.
Heinz kehrte aus Berlin zurück und begann eine Ausbildung zum Kammerjäger. Er lernt bei einem kommunistischen Meister, der ihn gegenüber seinen Kunden als Sudetendeutschen ausgab. Doch dann, im April 1939 endlich die Erlösung. Die Familie konnte drei Visa für die Einreise nach Kuba erstehen. Den Preis dafür mussten sie jedoch doppelt bezahlen. Um auf ihr eingefrorenes Bankkonto zugreifen zu können, mussten sie einen Antrag stellen. Die Behörden bewilligten zwar die Ausgaben, buchten jedoch einen genauso hohen Betrag, wie sie genehmigt hatten als „Gebühr“ ab. Zugleich kaufte die Familie eine Schiffpassage nach Kuba. Die Fahrt in die Freiheit sollte jedoch einen ganz anderen Weg nehmen als die Familie erwartete.
Zunächst jedoch musste die Reise vorbereitet werden. Unter der Aufsicht von Beamten mussten sie ihre Habseligkeiten in Koffer verpacken, die dann von eben jenen versiegelt wurden. Über den Inhalt der Kisten und Koffer wurde penibel Buch geführt. Einer der Beamten hatte jedoch Mitleid mit der Familie, er drückte beim Packen beide Augen zu und nahm mehrere Gegenstände nicht in die Listen auf. Kurz vor der Abreise wurden sie noch von einer ehemaligen nicht-jüdischen Freundin besucht, ein Abschied unter Tränen, der auch für die Freundin sehr unangenehme Konsequenzen bedeuten hätte können. Dann brach die Familie nach Hamburg auf.
Die Irrfahrt der St. Louis
Am 13. Mai 1939 bestieg die Familie in Hamburg das Kreuzfahrschiff St. Louis zusammen mit über 900 anderen jüdischen Auswander:innen.10 An Bord reisten sie erster Klasse, es wäre unsinnig gewesen, nicht so viel wie möglich Geld von den eingefroren Konten auszugeben, bevor es ganz in die Hände der Nationalsozialisten fiel. Auf dem Schiff wurden die Passagiere zum ersten Mal seit langem wieder wie gleichwertige Menschen behandelt. Der Kapitän der SS St. Louis, Gustav Schröder, versucht die Schrecken des Nazi-Regimes so gut wie möglich vergessen zu machen. Zwar herrscht immer noch Ungewissheit über den tatsächlichen Erfolg der Reise, doch zumindest die Jüngeren unter den Passagieren konnten einige unbeschwerte Tage an Deck des Schiffes verbringen.
Wenige Tage nach der Abreise, erreichte ein Telegramm die Familie, in dem Alfred Gembitz mitteilte, er habe nun Visa für die Einreise nach Kolumbien erhalten. Max und Martha bedauerten zu diesem Zeitpunkt noch, dass der Schwager diesen unnötige Ausgabe getätigt hatte, sie waren fest vom gelingen ihrer Reise überzeugt. Wenige Monate später sollten ihnen diese Papiere das Leben retten.
Als das Schiff jedoch am 28. Mai 1939 in Havanna einlief wurde klar, dass die kubanische Regierung den Passagieren die Einreise verweigerte. Die Visa waren nicht gültig, der ausstellende Beamte hatte lediglich das Geld für die Visa kassiert, sie jedoch nicht beantrag. An Bord der St. Louis breitete sich Panik aus, eine Rückkehr nach Deutschland hätte für die 937 jüdischen Passagiere die härtesten Konsequenzen bedeutet. Alfed Gembitz in Kolumbien setzte alle Hebel in Bewegung, um seinen Bruder zu unterstützen. Er schickte die Visa nach Havanna und beauftragte einen Bekannten die Übergabe zu organisieren. Das Unterfangen war jedoch aussichtslos. Um das Schiff verlassen zu dürfen und weiter nach Kolumbien zu reisen, wäre eine Gebühr von 5000 Dollar pro Person fällig geworden. Die Gembitz verfügten nicht über eine solch hohe Summe Geld. Die St. Louis verließ den Hafen in Richtung Florida. Allerdings weigerten sich sämtliche Länder auf dem amerikanischen Kontinent, die Flüchtenden an Land zu lassen. Die US-Marine schickte sogar ein Kriegsschiff, um das sich in der Anfahrt befindliche Flüchtlingsschiff abzudrängen.
Das Schiff nahm also wieder Kurs auf Hamburg. Nach zähen Verhandlungen jüdischer Hilfsorganisationen, dem Kapitän des Schiffes, Gustav Schröder und dem Druck der internationalen Medienlandschaft, erklärten sich Holland, Frankreich, Belgien und England in letzter Minute bereit jeweils einen Teil der Passagiere der St. Louis aufzunehmen. Die Geschichte dieser Überfahrt wurde unter dem Namen „Die Irrfahrt der St. Louis“ bekannt und auch verfilmt. Die Familie Gembitz wurde in Frankreich aufgenommen.11
Ausreise in LetzTer Sekunde
In Frankreich wurden die Flüchtenden zuerst in einem Privathaus in LeMans untergebracht. Ein jüdischer Hilfsverein hatte Spenden gesammelt und finanzierte so das Überleben der Gruppe. Als kurze Zeit später der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen begann, wurden die Gembitz in ein Internierungslager für „feindliche Ausländer“ gebracht. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um das Lager LesMilles in Südfrankreich handelte. Dort wurden bis zu 10 000 jüdische und politische Flüchtlinge aus Deutschland festgesetzt.
Heinz drängte seine Eltern die Ausreise nach Kolumbien voranzutreiben. Seine Mutter Martha, die sich im Gegensatz zu Heinz und Max weiter frei bewegen durfte, fuhr nach Paris um die Visa, die mittlerweile dorthin geschickt worden waren, abzuholen und die Reise vorzubereiten. Sechs Monate später war es soweit. Am 13.01.1940 verließ die Familie mit einem Frachtschiff Frankreich. Laut Heinz Gembitz, war es eines der letzten Schiffe das Frankreich verließ. Zuerst ging es Richtung England. Die Reise war jedoch ein gefährliches Unterfangen. Deutsche U-Boote und Magnetminen stellten eine tödliche Gefahr da. Das Schiff reiste in einem Konvoi, der von Kriegsschiffen und und Flugzeugen begleitet wurde. Die Überfahrt dauerte fast einen Monat. Am 12.Februar 1940 erreichte die Familie endlich das sichere Kolumbien.
Dort musste sich die Familie ein komplett neues Leben aufbauen. Als Kapital dienten ihnen lediglich 3000 Pesos, die Max Gembitz mit Hilfe eines Rabbis zwei Jahre zuvor ins Ausland geschmuggelt hatte. 1946 heiratete Heinz Hannelore Friedhaber aus Weinheim, die mit ihrer Familie zehn Jahre zuvor aus Deutschland geflüchtet war. Später eröffnete er ein Fotogeschäft.12 In den 1960er Jahren zog es seine Eltern zurück nach Deutschland. Sie ließen sich in Münster nieder und kämpften von dort aus um eine Entschädigung für das geraubte Geld und Eigentum. Martha Gembitz starb 1966 und wurde auf dem Jüdischen Freidhof in Münster begraben.13 Heinz und seine Familie waren mittlerweile nach Israel eingewandert, dort starb Max Gembitz 1968. Heinz Gembitz schloß im Jahr 1999 für immer die Augen.
Selma Berne, die Schwester von Max und Alfred , die mit ihrem Mann Georg in Berlin lebte, wurde von den Nazis am 03.02.1943 nach Auschwitz deportiert. Seither gilt das Ehepaar als verschollen. Es ist anzunehmen, dass sie im Konzentrationslager umgebracht wurden.14 Heinz Tante Frida und sein Cousin Werner wurden am 17. November 1941 aus Berlin nach Litauen deportiert. Sie wurden in der ehemaligen Militärfestung Fort IX. in Kaunas/Kowno mit tausenden anderen Deportierten wenige Tage später erschossen. 15 16
Quellen:
- Lebensbericht von Heinz Gembitz, ca. 1983, Privatarchiv Familie Kidron, Israel. ↩︎
- Leipziger Adressbuch von 1923
https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/97795/304 ↩︎ - LBI Archives (AR 10628),MF 968 Reels 1-10 ,Guembel Family Collection, 1829-1998 (bulk 1930s-1990s.) ↩︎
- Lebensbericht von Heinz Gembitz, ca. 1983, Privatarchiv Familie Kidron, Israel. ↩︎
- ebd. ↩︎
- ebd. ↩︎
- ITS Digital Archive, Arolsen Archives
Dokumente mit Namen ab GEISSLER, Karl, Dachau, 1.1.6/01010607 087/ ITS Digital Archive ↩︎ - Nacham Andreas (Hrsg) 2008 Es brennt! Antijüdischer Terror im November 1938, Austellungskatalog , Stiftung Denkmal der ermordeten europäischen Juden, Berlin S.123 ↩︎
- Lebensbericht von Heinz Gembitz, ca. 1983, Privatarchiv Familie Kidron ↩︎
- St. Louis Passengers, JDC Archives, Collection 1933-1944, file 384 ↩︎
- NY_AR3344_00083,JDC Archives, Collection 1933-1944, file 384 ↩︎
- https://original-ufdc.uflib.ufl.edu/AA00039770/00006/10x ↩︎
- https://www.juedisches-leben-muenster.de/friedhofsplan-suche/ ↩︎
- Welle 42 – 28. Osttransport in das KL Auschwitz, 03.02.1943, Berne/ 1.2.1.1 Deportationen / Deportationen aus dem Gestapobereich Berlin /127212204// ITS Digital Archive, Arolsen Archives ↩︎
- https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de1055983 ↩︎
- https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de1055810 ↩︎