Die Meyerschen Häuser
Die Meyerschen Häuser waren ein „rotes Viertel“. Ein beträchtlicher Teil der Bewohner:innen fühlte sich linken Parteien und Bewegungen zugehörig. Zahlreiche aktive Sozialdemokrat:innen und Kommunist:innen lebten und wirkten in den Meyerschen Häusern. Das prominenteste Beispiel ist Kurt Kresse, der mit seinen Eltern und Geschwistern in der Anlage lebte, bis er 1932 zuerst in die Kulkwitzerstrass 1 und kurz darauf nach Plagwitz zog. Die erschwinglichen und, für diese Zeit, sehr modernen Wohnung boten den unzähligen Arbeiter:innen und Geringverdiener:innen aus Klein- und Großzschocher ein Obdach. Der Spitzname „Meyersdorf“ lässt ahnen, dass sich dort eine Gemeinschaft entwickelte, die auch in den grausamen Zeiten des Nationalsozialismus Geborgenheit und Mut geben konnte. Während der zwölf Schreckensjahre der Nazi-Diktatur versuchten zahlreiche Bewohner:innen der Häuser, sich dem Terror der Nazis entgegenzustellen. Sei es durch gegenseitige Hilfe oder aktiven Widerstand. Unzählige Bewohner:innen wurden verhaftet und in Zuchthäuser oder Konzentrationslager verschleppt.
Ein linkes Biot0p
In der Wohnsiedlung kamen Politik und Alltag zusammen, so wurden von den verschiedenen linken Parteien z.B. Jugendgruppen organisiert um die Betreuung der Kinder sicher zu stellen. Wilhelm Endres aus Großzschocher, ein späteres Mitglied der sogenannten Meute Hundestart erinnert sich:
„Dann hatten wir in den benachbarten Meyerschen Häusern eine Familie Parbat gehabt, die haben die Kinderfreunde-Gruppe in Kleinzschocher betreut. Dort wurden Kinderspiele gemacht, z. B. Doktor Dolittle’s Reisen. Das waren also kinderbezogene Erlebnisbereiche, in die wir reingewachsen sind, und dort haben sich nach und nach, mit dem Älterwerden auch bestimmte politische Grundformen gebildet.„
Wilhelm Endres im Interview mit Sascha Lange 1
Aus diesen Zusammenhängen bildeten sich mitunter auch Gruppen die sich später in aktiver oder passiver Weise versuchten dem Zugriff des Nazi-Regimes zu entziehen:
Es hatte sich dann auch so entwickelt, dass wir in Leipzig in den Meyerschen Häusern bei der Familie Parbat mit deren Kindern, das waren zwei Söhne und zwei Töchter, unsere illegalen Treffs abhielten. Es wurde meistens Radio BBC gehört.
Wilhelm Endres im Interview mit Sascha Lange2
In Zschocher gab es mehrere der losen Jugendgruppen, die unter dem Namen Meute bekannt wurden. Die sogenannte Meute Meyersdorf traf sich im Innenhof der Meyerschen Häuser um den Streifen der HJ zu entgehen. Ihr Erkennungszeichen waren weiße Schals und ein Totenkopfanstecker.3
Ein dorn im Auge der Nazis
Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, wurden die Meyerschen Häuser in Kleinzschocher Ziel regelmäßiger Razzien und Repression. Eine der ersten Razzien kurz nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten fand am 26. März (26.03.33) statt. Die Leipziger Neuesten Nachrichten schrieben am 27.03.1933:
„Am Sonntag wurde in den Meyerschen Häusern eine eingehende Durchsuchung vorgenommen. Rund 800 Mann der SA sperrten den ganzen Häuserblock ab und von 400 Mann, Polizei und Hilfspolizei wurden über 120 Wohnungen durchsucht. Es ist die größte polizeiliche Aktion die bisher in Leipzig durchgeführt wurde.„
Leipziger Neueste Nachrichten am 27.03.19334
Wie diese Razzien abliefen, beschrieb Ursula Grothe, die in einer kommunistisch geprägten Familie in den Meyerschen Häusern aufwuchs, sich wie ihr Vater Carl Grothe während des NS an Solidaritäts- und Widerstandshandlungen beteiligte und später in die Niederlande auswanderte. Der Bericht wurde von ihrem Sohn aus dem niederländischen übersetzt:
„[…] am frühen Morgen wurden wir durch laute Geräusche und Schreien aufgeschreckt […]. Draußen sahen wir Scharen von Nazis […] herumlaufen. Überall sah man Braunhemden und Hakenkreuze. Es war uns bald klar, dass die ganze Gegend abgesperrt wurde. […] Dann wurden die […] Wohnungen durchsucht. […] Während der Durchsuchungen, hatten sie vor allem Propagandamaterial gesucht. Unter dem Motto „wer nicht mit uns ist gegen uns“ wurden viele Bücher mitgenommen. Wo was gefunden wurde, mussten die Mieter die Bücher und Papieren […] nach unten bringen und auf ein […] Feuer werfen. Anschließend wurde das Material unter den Augen der Besitzer verbrannt. Die Wohnung unserer Familie wurde auch durchsucht. Die Durchsuchung wurden von drei jungen SA-Männern durchgeführt. In unserer Wohnung hatten sie jedoch eine große Beute. […] Meine Mutter, Schwester und ich musste vom Balkon zu sehen, was mein Vater auf den Scheiterhaufen werfen musste. Wir wurden dazu von einem Nazi, der in unserem Haus geblieben war, gezwungen. Als nächstes haben wir miterlebt, wie mein Vater von den Nazis geprügelt wurde. Auf unser Schreien vom Balkon wurde nicht eingegangen. An einer Stelle wurde er sogar mit einem Schwert über seinem Kopf geschlagen. Dann ließen sie ihn gehen. Mit einem blutigen Gesicht kam er zurück ins Haus. Die Kopfhaut hat meine Mutter ein paar Stunden später von der Straße aufgehoben. (…) Mein Vater war gerade zurück als meine Mutter sah, dass ihre Nachbarn versuchten ein Zeichen zu geben. Doch plötzlich wurde auf unsere Fenster geschossen. Blick nach draußen, gab es nicht. Allerdings ahnte meine Mutter was los war. Die Nazis hatten ihren Vater […] verhaftet. Da sie keine Angst vor dem Teufel hatte, verließ sie mit dem Aschekasten in den Händen unsere Wohnung. […] Wir standen an der Spitze der Treppe und hörten, wie sie zu einen Nazi, der weiter unten stand sagte: „Ich möchte den Aschekasten leeren“. Da er keine Zustimmung gab, fragte sie, ob er es für sie tun wollte. Das tat er selbstverständlich nicht. Darüber hinaus fragte sie ihn: „Hast du das kleine Mädchen von mir gesehen? Ich habe mein Kind verloren. Es muss irgendwo da draußen herumlaufen.“ Der Mann hatte offenbar […]nichts gesehen. „Dann (suche) ich sie jetzt.“, sagte sie. Ohne von dem verwirrten Mann angehalten zu werden verließ sie das Haus. An der Haustür sah sie zwei Lastwagen. Auf einem von ihnen war ihr Vater, nun durch die Nazis rasiert. Später haben wir von Leuten, die daneben gestanden haben, gehört was da passiert ist. […] Nach der Legende sagte sie resolut mit autoritärem Ton zu dem Ranghöchsten der Nazis: „Nehmen Sie den Mensch von diesem Auto. Das ist mein Vater und er hat nichts getan. Bist du völlig verrückt“. […] Damals konnte man mit einem großen Mund noch viel erreichen. Die Nazis brauchten Zeit, um zu lernen, wie sie ihre Macht nutzen konnten. Ein leitender Polizeibeamter (kein Nazi wie später deutlich wird), rief mein Großvater an und fragte: „Was hast du getan?“ Dann sagte mein Großvater: „Ich habe nichts getan, ich bin ein Kommunist.“ Dann sagte der Polizist: „Weil du ehrlich bist, kannst du gehen.“ Ein paar Jahre später hätte er mit einer solchen Ehrlichkeit sein eigenes Todesurteil ausgesprochen.“
Interview Ursula Grothe mit ihrem Sohn Jan Deelstra5
Die Meyerschen Häuser wurden danach regelmäßig durchsucht, Wohnungen verwüstet und Eigentum zerstört. Die Razzien begannen meist um 5 Uhr Morgens. Teils wurden Fußböden aufgehebelt, Bettzeug zerschnitten oder Türpfosten demontiert um nach Verstecken zu suchen. Nur für wenige verliefen die Razzien so glimpflich wie für „Opa Grothe“. Viele wurden nach einem Aufenthalt im Polizeigefängnis in das Konzentrationslager Colditz gebracht, wo sie misshandelt und gefoltert wurden. Trotz des Terrors und der Einschüchterungsversuche gab es in den Meyerschen Häusern, vor allem in den ersten Jahren der Nazi-Diktatur, kontinuierliche Widerstandsversuche. Es wurden Zeitungen und Flugblätter gedruckt und Geld gesammelt um die Familien inhaftierter Genoss:innen zu unterstützen oder die illegale Arbeit der KPD zu finanzieren.
Solidarität mit allen Mitteln
Viele der Bewohner:innen der Meyerschen Häuser hatten bereits eine lange Geschichte in der Arbeiterbewegung. Zum Beispiel das Ehepaar Josef und Ester Zeus. Josef Zeus wurde am 30.04.1881 in Thür bei Koblenz geboren und lebte spätestens seit 1905 in Leipzig, zunächst in Leutzsch. Er war in der Anarcho-Syndikalistischen Bewegung aktiv und leitete für eine Zeit die Redaktion der in Leipzig erscheinenden Zeitschrift Der Anarchist. Er unternahm Reisen durch ganz Europa und wurde dauerhaft polizeilich überwacht. Seit 1914 wohnte er in den Meyerschen Häusern.6 Mitte der 1930er Jahr freundete er sich mit dem Ingenieur Josef Weißmann an. Weißmann wohnte in der Bambergerstrasse und arbeitete bei der nahegelegenen ATG (Allgemeine Transport Gesellschaft), später ein wichtiger Rüstungsbetrieb für die Nazis. Trotz der erheblichen sozialen Unterschiede entstand eine feste Freundschaft. Weißmann stammte aus einer jüdischen Familie, hatte jedoch mit dieser gebrochen und fühlte sich dem Judentum, sowohl kulturell als auch in spiritueller Hinsicht nicht zugehörig.7
Das gleich galt für Esther Zeus, der Ehefrau von Josef Zeus, sie kam ebenfalls aus einer jüdischen Familie, hatte ihre Religion jedoch abgelegt.8 Weißmann war, ohne politisch gebunden zu sein, ein entschiedener Nazigegner, der daraus keinen Hehl machte. Er diskutierte offen die Politik der Nationalsozialisten in seinem Betrieb und lieferte sich einen Schlagabtausch mit den nationalsozialistischen Behörden und versuchte die Einstufung als sogenannter „Volljude“ nach den Nürnberger Gesetzen rückgängig zu machen.9 Laut Josef Zeus soll er auch Gedichte und Denkschriften gegen die Nazis verfasst haben, die Zeus dann in Briefkästen verteilte.10
Verhaftung und Mord
Zeus wurde im Jahr 1937 wegen Vorbereitung zum Hochverrat verhaftet. Er verbrachte zwei Jahre im Zuchthaus. 1942 wurde er erneut inhaftiert und kam erst kurz vor Kriegsende wieder frei. Josef Weißmann wurde im Januar 1943 verhaftet, weil er sich weigerte den Zweitnamen Israel anzunehmen. Nach mehreren Monaten im Polizeigefängnis in Leipzig wurde er der Gestapo überstellt und nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er im August 1943 ermordet. Esther Zeus unterstützte in dieser Zeit Emilie Weißmann, die nach der Verhaftung ihres Mannes schwer erkrankte und zusätzlich von Nachbar:innen stigmatisiert und gemieden wurde. Später übernahmen andere Familien, aus den Meyerschen Häusern, u.a. die Familie Grothe, die Betreuung von Frau Weißmann. Sie sorgten auch dafür, dass ihr Sohn Gerd Weißmann, der nach den Gesetzen der Nazis als Halbjude galt und aus dem Konzentrationslager Osterrode im Harz geflohen war, in Leipzig versteckt wurde. Esther Zeus wurde mit einem der letzten Deportationszüge am 14.02.1945 in das KZ Theresienstadt gebracht. Sie überlebte die Haft und kam als eine der wenigen zurück nach Leipzig.
Quellen
- Sascha Lange, Meuten, Swings & Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung,2018, S. 49ff ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Sascha Lange, Die Leipziger Meuten – Jugendopposition im Nationalsozialismus, Leipzig, Passage Verlag, 2018.S 102 ff. ↩︎
- Dr. Gerhard Wolschke et al, Leipzig Südwest – die Geschichte eines Stadtteils, Leipzig,Rat des Bezirkes Leipzig Südwest,1990, S. 51 ↩︎
- Privatarchiv Jan Deelstra ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv, StA-L, 20028 Amtshauptmannschaft Leipzig, Nr. 1751 ↩︎
- Aufzeichnungen & Dokumentensammlung Karin Weißmann, Privatarchiv, USA ↩︎
- StA-L, 20237 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 13253
↩︎ - Aufzeichnungen & Dokumentensammlung Karin Weißmann, Privatarchiv, USA ↩︎
- StA-L, 20237 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 17938 ↩︎