Windorferstrasse 53 – 57
Im herrschaftlichen Anwesen des Tauchnitz-Palais am Beginn der Windorferstraße befand sich von 1934 bis 1941 das Kinderheim Jedidja. Das von den Schwestern Petereit im Jahr 1912 gegründete Kinderheim vereinte eine streng christliche Ausrichtung mit modernen Erziehungsmethoden. Es wurde von zwei Schwestern betrieben, Lina und Florentine „Flora“ Petereit. Seit seiner Gründung im Jahr 1912 wurden immer wieder neue Häuser gesucht, in der die bis zu 200 Kinder versorgt und untergebracht werden konnten. Neben dem Heim in Kleinzschocher gab es ein weiteres in Zwenkau, das vor allem für Kleinkinder gedacht war. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 stand das Heim, aus mehreren Gründen im Fokus der Nazis. Zum einen war ihnen die christliche Ausrichtung ein Dorn im Auge, zum anderen gehörten die Kinder im Heim, schon bevor die Nazis an die Macht kamen, zu den schwächsten Gliedern der Gesellschaft und waren von Ausgrenzung betroffen. Viele der Kinder stammten aus unehelichen Verhältnissen oder aus zerrütteten Familien. Mitte 1933 wurde versucht das Heim, das bis dahin unabhängig von staatlichen Strukturen existierte, zu enteignen. Das Personal sollte entlassen werden und das Heim von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt übernommen werden. Bis 1941 konnte dieser Prozess herausgezögert werden. Danach wurde das Heim in staatlichen Strukturen überführt und die Heimleitung sowie die Angestellten entlassen.
Schutz für die Schwächsten der Gesellschaft
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass die Kinder im Heim von den sozialdarwinistischen und antisemitischen Verbrechen des Naziregimes betroffen waren. 1934 wurde das Gesetz zur „Verhütung von Erbkrankem Nachwuchs“ eingeführt, es ermöglichte die Zwangssterilisierung von Menschen die nicht als nützlicher Teil der sogenannten Volksgemeinschaft gesehen wurden. Manchmal reichten dafür auch schon kleinste Auffälligkeiten, Marianne Klemm, eines der Heimkinder, wurde, wahrscheinlich wegen einer ausgeprägten Lese-Rechtschreib-Schwäche, dieser menschenunwürdigen Prozedur unterzogen. Es gibt weitere Hinweise darauf, dass Kinder aus dem Heim von den Nazis verfolgt wurden. Im Mai 1939 wurde eine Volkszählung im Gebiet des Deutschen Reichs durchgeführt. Dabei wurden die Bewohner:innen auch nach den antisemitischen und rassistischen Abstammungskriterien der Nazis kategorisiert, die Ergebnisse wurde später an das Reichssippenamt weitergegeben. Der Verein Tracing the past hat die Ergebnisse dieser Volkszählung digitalisiert und über eine interaktive Karte zugänglich gemacht. Auf der Karte sind für das Heim in der Windorferstraße zahlreiche Einträge zu finden. Teils weil die Kinder als sogenannte Mischlinge kategorisiert wurden, das heißt sie hatten jüdische Großeltern, teils ist der Grund für die Verfolgung nicht angegeben. Das Schicksal der Menschen die im NS als sogenannte Mischlinge 1. oder 2. Grades eingestuft wurden, wurde in der Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus wenig beachtet. Nach der Befreiung von der Terrorherrschaft der Nazis wurden sie oftmals nicht als Opfer anerkannt. Trotzdem war die Zeit der Nazi-Herrschaft auch sie eine Zeit der Ausgrenzung, Angst und der ungewissen Zukunft. Vor allem gegen Ende des Kriegs wurden viele von ihnen zur Zwangsarbeit verpflichtet und in Arbeitslager deportiert. Die Leiterinnen des Kinderheims Jedija versuchten sich so gut es ging für ihre Schützlinge einzusetzen und sie vor der Verfolgung durch die Nazis zu schützen. Ria Ursula Hornig war eines dieser Kinder. Da ihr Vater Jude war, galt sie als Mischling ersten Grades. Ihre Tochter, Florentine Ziemann, schreibt im Folgenden wie ihre Mutter die Zeit des Nationalsozialismus erlebte.
Das Leben meiner Mutter im Kinderheim Jedija
Meine Mutter, Ria Hornig, kam mit knapp 3 Jahren im Jahr 1925 kurz vor dem Tod ihrer Mutter in das Kinderheim Jedija, das von den Geschwistern Petereit geleitet wurde. Ihr jüdischer Vater Sigismund Rosenthal konnte sie nicht alleine aufziehen, besuchte sie aber regelmäßig bis er 1935 emigrierte und zu seinem Sohn Paul nach Palästina ging. Sigismund war Witwer und hatte aus erster Ehe sechs weitere Kinder, von denen vier während der Shoa ermordet wurden. Es muss auch eine engere Beziehung zwischen Olga Hornig, meiner Großmutter und den Geschwistern Petereit bestanden haben. Zwischen 1926 und 1934 adoptierte Florentine Petereit meine Mutter. Später wurde diese Adoption allerdings wieder annulliert – wahrscheinlich weil sie eine sogenannte „Halbjüdin“ war.
Ostern 1929 erfolgte ihre Einschulung in die 41.Volksschule. Die Leiterinnen des Heims versuchten den Kindern so gut wie möglich „Normalität“ zu vermitteln, sogar Zuckertüten gab es zum Schulanfang. Diesen Luxus zu ermöglichen war in ausgehenden 1930er Jahren nicht selbstverständlich, die staatlichen Zuschüsse reichten kaum aus um die Kinder anständig zu ernähren und einzukleiden. Das Heim finanzierte sich vor allem durch Spenden. Unter denen die das Heim großzügig unterstützten, waren auch erfolgreiche jüdische Kaufleute aus Leipzig wie z.B. das Warenhaus Bamberger & Herzt, das Kaufhaus Joske und die Gebrüder Held, die in Lindenau und Kleinzschocher Warenhäuser betrieben.
Als meine Mutter jedoch 1934 auf die Mittelschule (entspricht heute der Realschule) wechseln wollte, musste sie nach wenigen Tagen wieder auf in die Volksschule zurück. Sie war als sogannte „Halbjüdin“ unerwünscht. Was mag wohl als zwölfjährige in ihr vorgegangen sein? Sie wurde sehr streng christlich erzogen – mit dem Judentum hatte sie sich nie beschäftigt.
Auch nicht jüdische Heimkinder hatten unter den Machenschaften des Naziregimes zu leiden: u.a. Zwangssterilisierung. Etlichen Heimkindern wurde ein unfreiwilliger Krankenhausaufenthalt verordnet, so auch Marianne Klemm. Dokumente die nachvollziehbar machen könnten, wer dafür verantwortlich war, waren bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht auffindbar.
1936 musste Ria das Kinderheim verlassen, da das Heim nur Kinder bis 14 Jahre aufnahm. Sie zog mit der Zustimmung des Jugendamtes zu Flora Petereit in die Zschocherschestrasse 22. Nach der Schulentlassung Ostern 1937 war es für Ria – da „Halbjüdin“ – schwierig weiterbildende Schulen zu besuchen, geschweige denn studieren oder einen Beruf erlernen. Um sie vor den Nachstellungen der SS zu schützen und sie vor einer Deportation zu bewahren, suchte Frieda Petereit ihr zunächst Dienststellen in verschiedenen Kindergärten und Kinderheimen, dann in verschiedenen Privat-Haushalten, die teilweise die Notlage ausnutzten. Manche Stellen musste sie schon nach kurzer Zeit wieder verlassen, da die Arbeitsbedingungen zu schlecht waren.
Sie konnte zwar parallel eine Ausbildung zur Hauswirtschaftskraft absolvieren, ihr Traumberuf Erzieherin blieb ihr jedoch verwehrt. Durch das ständige Wechseln der Arbeitsstellen, wo sie meist auch ihr Quartier hatte, wurde ein Aufspüren durch die Gestapo erschwert. Da Ria einen jüdischen Vater und zwei jüdische Großeltern hatte, war sie besonders gefährdet. Hätte man ihr z.B. nachgewiesen, dass sie den jüdischen Glauben praktizierte, wäre sie durch die Nürnberger Gesetze als „Volljude“ eingestuft worden und von den Nazis verfolgt worden.
Im Jahr 1943 wurde die Zschochersche Straße 22 ausgebombt, Ria fand Zuflucht bei Rosa Rauchfuß, der Freundin ihrer Halbschwester Betty in der Birkenstraße 2. Betty Rosenthal wurde trotz zahlreicher Versuche ihrer Freundin Rosa sie vor dem Zugriff der Nazis zu verstecken, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Auf der berüchtigten Wannseekonferenz, die 1942 stattfand und den Anfang des industriellen Massenmord an Jüdinnen und Juden in ganz Europa markierte, wurde auch vehement darauf gedrängt, sogenannte „Mischlinge“ ebenfalls in die Vernichtungspolitik der Nazis mit einzubeziehen. Dies scheiterte jedoch an organisatorischen Fragen. In den von der Deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten, wurden sie jedoch vollumfänglich verfolgt.
1945 wurde meine Mutter bei der Hasag zwangsverpflichtet, nur das Kriegsende rettete sie vor einer Deportation. Nach 1945 blieben viele „Mischlinge“ in Deutschland. Ihr Schicksal geriet jedoch schnell in Vergessenheit oder wurde gar nicht registriert. Für manche waren sie nur ein peinliches Überbleibsel der Nazi-Herrschaft und nicht wenige Deutsche hielten an ihren Vorurteilen gegenüber Juden fest.
1946 erhielt Ria endlich ihren langersehnten Studienplatz an der Henriette-Goldschmidt-Schule in Leipzig. Sie war eine der ältesten Schülerinnen. Nach der zweijähriger Ausbildung bestand sie im Juli 1947 die Staatsprüfung als Kindergärtnerin und arbeitet mit Leib und Seele als Kindergartenleiterin in verschiedenen Leipziger Kindergärten.
1953 floh sie mit mir, ihrer 4jährigen Tochter in die BRD, da sie die politische Zielsetzung der DDR nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. Sie kam nach Bochum.
Arbeit und soziale Not gehörten in der BRD trotz beginnendem Wirtschaftsaufschwung weiterhin zum Alltag. Auch Ria musste ums Überleben kämpfen. Als alleinerziehende Mutter hatte sie trotz Staatsexamen keine Aussicht auf Arbeit in ihrem gelernten Beruf und so war sie gezwungen, die Arbeit anzunehmen, die ihr geboten wurde, auch wenn diese nicht ihrer Ausbildung entsprachen und und meist nur befristet waren. Ich wurde deshalb 1954 zurück nach Leipzig zu Rosa Rauchfuß gebracht, damit meine Mutter im Westen „Fuß fassen“ konnte. 1956 zogen Rosa und ich dann jedoch endgültig nach Bochum.
In Teilen der Nachkriegsgesellschaft hat sich im Bezug auf den Rassenwahn der Nazis kaum ein Umdenken vollzogen. Ausgrenzung und Stigmatisierung setzten sich, wenn auch nicht mehr offensiv zur Schau gestellt, weiter fort. Als zynisches Beispiel hierfür dient der Brief eines evangelischen Pfarrers vom 6. Nov. 1958, bei dem sich Ria auf eine Stelle als Kindergartenleitung geworben hatte:
„ … über das Arbeitsamt hat sich bei ein Frl. Ria Hornig (Halbjüdin) […] beworben. […] was halten sie von dieser Person? […] meine Amtsbrüder und ich haben gewisse Bedenken, denn bei der großen Nachfrage nach Kindergärtnerinnen ist es kaum verständlich, dass eine perfekte Kindergärtnerin jahrelang als Vertreterin bei Seifen-Firmen arbeiten muss, ohne in ihrem Beruf unterzukommen […] Natürlich fällt erschwerend ins Gewicht, dass sie ein uneheliches Kind hat und sie dass sie mehr Zeugnisse über ihre Hausgehilfentätigkeiten beibringt als solche über Kindergartentätigkeit […]“
Meine Mutter hatte die Stelle nicht erhalten, der Brief mit dem diskreditierendem wurde ihr über Umwege zugespielt. Was mag in ihr vorgegangen sein als sie diese Aussagen lesen musste? Die Zeugnisse über ihre Hausgehilfentätigkeiten betreffen den Zeitraum von April 1941 – Januar 1945, in dem sie weder studieren, noch einen Beruf erlernen konnte. Dass ständige Wechseln ihrer Tätigkeiten war die einzige Möglichkeit zu überleben, um den Nachstellungen der Nazis zu entgehen. Arbeiten als Kindergartenleiterin konnte sie erst nach ihrer Ausbildung.
Von Sept 1947 bis zu ihrer Flucht Anfang 1953 tat sie dies. In der BRD wurden ihr das Arbeiten in ihrem Beruf leider verwehrt. Irgendwie meisterten Rosa Rauchfuß, meine Mutter und ich trotzdem diese harten Zeiten. Unsere Familie bestand aus drei Frauen aus 3 Generationen, eine eher untypische Familienkonstellation für diese Zeit, die von ihrem Umfeld misstrauisch beäugt wurde. In ihrem geliebten Beruf konnte meine Mutter Ria zwar nie mehr arbeiten, aber sie konnte einer geregelten Arbeit nachgehen und ihre kleine Familie ernähren. „Geldsorgen“ hatte sie zwar anfangs immer noch, aber dennoch wurde viel gelacht und die „Feste gefeiert, wie sie fielen“.
2003 starb Meine Mutter in Bochum.
Quellen:
Erinnerungen und Privatarchiv Florentine Ziemann
Vollbach Ekkehard, Kinderheim „Jedidja“ in Leipzig (1912-1941), Leipzig-Lese, https://www.leipzig-lese.de/sehenswuerdigkeiten/oertlichkeiten/kinderheim-jedidja-in-leipzig-1912-1941/