Antonienstraße 16
Spätestens seit 1930 wohnten Frieda „Friedel“ Glaser, geb. Adler und Max Glaser in der Antonienstraße 16. Die beiden kannten sich schon seit ihren Jugendjahren. Frieda kam aus einer jüdischen Familie, hatte jedoch ihren Glauben abgelegt und war zum Protestantismus konvertiert. Nach der Machtübergabe an Adolf Hitler wurde sie von den Nationalsozialisten als jüdisch verfolgt und schließlich im Oktober 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.
Grimma trifft Shanghai
Max Glaser wurde am 19.01.1897 in Grimma geboren, Frieda Adler am 23.05.1900 in Shanghai. Dass sie sich trotzdem seit ihrer Jugend kannten, lag am frühen Tod von Friedels Mutter Jenny Adler (geb. Schiller). Sie starb als Frieda 8 Jahre alt war. Ihr Vater Emil Adler schickte sie zurück nach Leipzig, wo sie bei ihrer Großmutter, Rosa Schiller in der Alexanderstraße 10, aufwuchs.1
Max Glaser kam mit seinen Eltern wahrscheinlich 1914 aus Grimma nach Leipzig. Max Vater, der ebenfalls Max hieß, hatte sich dort als selbständiger Händler versucht, bei einem Hochwasser verlor er jedoch seinen mobilen Verkaufsstand. In Leipzig arbeitete er wieder in seinem Ausbildungsberuf als Kellner. Angekommen in Leipzig, zog die Familie Glaser ebenfalls in die Alexanderstraße im Leipziger Zentrum.2 Wahrscheinlich lernten sich dort Max und Frieda bereits in jungen Jahren kennen. Zumindest bezeichnet Max Glaser Frieda, in einem Erinnerungsbericht, als seine Jugendfreundin. Nach Abschluss der Schule machte Max dann eine Ausbildung zum Kaufmann. Als diese 1916 beendet war, musste er als Soldat im Ersten Weltkrieg dienen. Er stieg zum Unteroffizier auf und wurde für seinen Kriegseinsatz ausgezeichnet.3
Frieda Glaser lebte zu dieser Zeit wahrscheinlich bei ihrem Vater, Emil Adler, in New York. Sie kam im April 1916 dort an und blieb wahrscheinlich bis 1918 in den Vereinigten Staaten. In den Unterlagen zu ihrer Einreise ist als Wohnort sowohl die Alexanderstraße in Leipzig als auch Hannover angegeben. Bis zum jetzigen Zeitpunkt ist über ihren Aufenthalt in Hannover allerdings nichts weiteres bekannt.4
Zurück in Leipzig heiratete sie am 13.05.1922 Max Glaser. Die beiden bauten sich eine Existenz auf. Anfangs wohnten sie noch eine Zeit im gleichen Haus wie Max Eltern und zogen dann in die Antonienstraße 16 . Drei Jahre nach ihrem Umzug nach Kleinzschocher, wurden 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gebracht. Von nun an lebte das Ehepaar in einem Albtraum, der für die beiden kein Ende nahm.
Es gab ja damals solche besessene Menschen, dass man schon pepperte, wenn man von einem fremden Bürger oder gar von einem Uniformträger angesprochen wurde bzw. die Klingel an der Wohnungstür ertönte. Das ist bis heute noch nicht aus den Gliedern. Viele von denen wissen heute nichts mehr davon, Ich sagte schon manchem: Ihr Nazis habt alles vergessen, wir aber nichts!
Max Glaser, 19576
Ächtung und Denunzation
Nun begann die schrittweise Entrechtung und Verfolgung aufgrund der jüdischen Herkunft Friedas oder Friedel, wie ihr Mann sie nannte. Durch die Nürnberger Gesetze der Nationalsozialisten wurden die Glasers aus dem sozialen Leben ausgegrenzt und ihrer Rechte beraubt. Um die antisemitischen Repressionen der Nationalsozialisten im Alltag durchzusetzen, bedurfte es nicht unbedingt des Einsatzes der Staatsgewalt:
Es gab Leute die in den Läden auf uns, speziell aber auf meine Frau hinwiesen, dass sie Jüdin sei. Der Kriminalbeamte Sander, der gleich um die Ecke wohnte, hat einmal bei der Polizei angezeigt, dass wir mal ausnahmsweise einen Teppich am Nachmittag geklopft haben und dann hat er zu verschiedenen gesagt, dass sie mit dem Judenschwein nicht sprechen dürften.
Max Glaser, 19577
Das Novemberpogrom von 1938, bei dem es zu Verhaftungen ihrer jüdischen Nachbarn kam z.B. bei den Schlesingers, die im Haus gegenüber wohnten, überstanden die beiden unversehrt. Allerdings waren die schrecklichen Ereignisse auch für die Glasers wie für die meisten anderen jüdischen Leipziger:innen eine Weckruf. Sie versuchten aus Leipzig zu flüchten. Ziel waren die USA. Frieda und Max besorgten sich die nötigen Papiere, sogar amerikanische Reisepässe waren schon vorhanden. Nachdem Deutschland jedoch 1939 mit dem Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg begann, war eine Ausreise nicht mehr möglich. Die Glasers blieben in Leipzig.
Deportation und Zwangsarbeit
Im Januar 1942 erhielt Frieda eine Vorladung der Polizei, die sie am 15. Januar 1942 wahrnahm. Laut Aussagen von Max Glaser war diese Vorladung wahrscheinlich auf eine Denunziation des, oben bereits erwähnten, Kriminalbeamten Sanders zurückzuführen. Das ehemalige SPD Mitglied soll sich nach der Befreiung Leipzigs nach Westdeutschland abgesetzt haben. Vielleicht tat er dies, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Als Frieda Glaser im Januar 1942 ihrer Vorladung in der Wächterstraße 34 nachkam, stellte sich heraus, dass in dem Haus eine Zweigstelle der Gestapo untergebracht war.9 Dort wurde sie unter dem Vorwand, sie würde sich weigern den zusätzlichen Vornamen Sara anzunehmen verhaftet. Seit Januar 1939 waren Jüdinnen und Juden dazu gezwungen den Zweitnamen Sara, für Frauen, bzw. Israel, für Männer anzunehmen und ihre Ausweisdokumente entsprechend zu ändern. Ihrem Mann Max, der ebenfalls die Wächterstraße aufsuchte nachdem seine Frau nicht wieder nach Hause gekommen war, wurde von den Beamten der Gestapo unter fadenscheinigem Vorwand abgewimmelt.
Am nächsten morgen bin ich gleich wieder hin […] dort erklärte man mir […] es würde lediglich eine Kennkarte ausgestellt in der Wächterstraße. Ich bin dann tatsächlich dort oben im vierten Stock gewesen und wollte darum bitten, dass das möglichst noch heute erledigt wird, weil ich tatsächlich der Meinung war, die Freundlichkeit der Herren von der Gestapo sei echt gewesen. Kurze Zeit später, als ich immer wieder vorsprach (auch in der Karl-Heine-Straße und zuletzt in der Auenstrasse) Lernte ich die andere Seite kennen, denn dann kamen die Drohungen, wenn ich nicht bald Ruhe liesse, dann würde man mich einsperren. […] Dann aber könnte ich gar nichts mehr für meine Frau tun […]
Max Glaser, 1957
Max Glaser sollte seine Frau nie wieder sehen. Es wurde ihm lediglich mitgeteilt, dass seine Frau in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt wurde. Das Lager, das sich rund 50 Kilometer von Berlin entfernt befand, war das größte Frauen-Konzentrationslager im Deutschen Reich. Frieda Glaser wurde am 28.03.1942 dorthin deportiert. In Ravensbrück, wie auch in den meisten anderen Lagern, mussten die Häftlinge bis zur totalen Erschöpfung arbeiten. Wer nicht mehr arbeitsfähig war, wurde in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Diese Schicksal wurde auch Frieda Glaser zuteil. Wann sie dorthin gebracht wurde, ist nicht bekannt. Am 10.10.1942 , kaum sieben Monate nach ihrer Verhaftung in Leipzig starb Frieda Glaser im Vernichtungslager Auschwitz. Auf ihrem Totenschein wurde ein Lungenödem als Todesursache angegeben. Es ist jedoch davon auszugehen, dass dies nicht die wahre Todesursache war.
Max Glaser sollte erst ein Jahr später vom Tod seiner Frau erfahren. Die Beamten spielten den Sachverhalt auf zynische Weise herunter. Er wäre ja noch jung, wurde dem fast 50-jährigem Max gesagt und könne sich ja noch eine andere Frau suchen, dann würde er den Verlust leichter verschmerzen. Zu diesem Zeitpunkt war Max bereits Zwangsverpflichtet und musste bei der Feuerwehr arbeiten. Bei der schweren Arbeit zog er sich eine Herzerkrankung zu, die ihn den Rest seines Lebens begleitet. Bis zum Ende des Krieges musste er Zwangsarbeit leisten und geriet dann in Gefangenschaft aus der er erst 1946 entlassen wurde. Bis 1974 lebte er mit seiner zweiten Frau Elisabeth in der Antonienstraße. Am 17.7.1974 starb er im Alter von 77 Jahren.
Quellen:
- Ellis Island und andere New York Passagierlisten, 1820-1957
MyHeritage.com [online database], MyHeritage Ltd.
https://www.myheritage.de/research/collection-10512/ellis-island-und-andere-new-york-passagierlisten-1820-1957 ↩︎ - Leipziger Adressbuch 1914 ↩︎
- Sächsisches Staatsarchiv Sta-L, 20237, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 13195 ↩︎
- Vereinigte Staaten 1. Weltkrieg registrationsrentwürfe, 1917-1918
MyHeritage.com [online database], MyHeritage Ltd.
https://www.myheritage.de/research/collection-10513/vereinigte-staaten-1-weltkrieg-registrationsrentwurfe-1917-1918 ↩︎ - Ellis Island und andere New York Passagierlisten, 1820-1957
MyHeritage.com [online database], MyHeritage Ltd.
https://www.myheritage.de/research/collection-10512/ellis-island-und-andere-new-york-passagierlisten-1820-1957 ↩︎ ↩︎ - siehe Fußnote 3 ↩︎
- siehe Fußnote 3 ↩︎
- Siehe Fußnote 3 ↩︎
- In seinen Erinnerungen schreibt Max Glaser fälschlicherweise von der „Weststraße 34“. Da sich diese jedoch im Leipziger Ortsteils Lindenthal befindet und zu diesem Zeitpunkt noch nicht bebaut war, gehen wir hier von einer Verwechslung aus. In der Wächterstraße 34 befand sich die Außenstelle des Sicherheitsdienst . ↩︎
- Archiwum Muzeum Auschwitz-Birkenau, Death Books, Frieda Glaser ↩︎